Auszug aus Kapitel 2
Ich öffnete die Tür zum größten Raum des Hauses: der
Wohnstube. Im Kamin brannte knisternd ein Feuer und füllte das Zimmer mit
angenehmer Wärme und dem Duft nach Holz und Harz. Wie so oft saß mein Vater,
Alastair McDonnell, an seinem Sekretär, der nahe an einem der hohen Fenster
stand, und war mit irgendwelchen Notizen oder Abrechnungen beschäftigt.
Ich blieb auf der Türschwelle
stehen und klopfte sachte gegen den Holzrahmen.
»Guten Abend, Vater«, begrüßte ich
ihn. »Darf ich eintreten?«
Mein Vater hob den Kopf, nahm den
Kneifer von der Nase und lächelte flüchtig, bevor er seine silberne Taschenuhr
aus seiner Rocktasche zog. Er warf einen prüfenden Blick auf das Zifferblatt.
»Es ist fast sechs Uhr, mein liebes
Töchterchen. Wo hast du dich so lange herumbetrieben?«, fragte er streng, aber
zum Glück nicht wirklich verstimmt.
»Entschuldige bitte, Vater. Ich war
im Wald, und ...«, ich zeigte durch die offenstehende Küchentür auf meinen
Korb, den ich zuvor gut sichtbar auf dem Küchentisch platziert hatte. »Ich habe
das schöne Wetter genutzt und noch einmal Brombeerblätter gesammelt. Für den
Tee, den du so gern trinkst.«
Alastair McDonnells Miene hellte
sich weiter auf, während er sich mit einer Hand über die kurzen grauen Haare
strich. Diese Geste machte er immer, wenn er überlegte, ob er mich maßregeln
oder Gnade vor Recht ergehen lassen sollte. Ich hoffte auf Letzteres.
»Na, wenn das so ist, will ich
ausnahmsweise auf eine Standpauke verzichten«, brummte er hinter dem Ansatz
eines Schmunzelns.
»Kann ich dich bitte sprechen,
Vater? Es ist dringend«, bat ich.
»Nur zu, mein Kind, wo drückt der
Schuh?« Er setzte sich bequem auf dem Polsterstuhl zurecht und faltete die
Hände vor seinem Bauch.
»Eibhlin hat mir erzählt, dass wir
Besuch haben.«
»Ja. Ein Mister Benjamin Preston
aus Lone Oak. Er hat ein Lager für die Nacht gesucht. Ich habe ihm die
Dachkammer angeboten, und seine Leute übernachten in der Scheune.«
Mein Vater musterte mich von Kopf
bis Fuß. »Was ist los mit dir, Gwen? Du bist so blass, als hättest du einen
Geist gesehen.«
»Ein Geist war es nicht, aber ich
habe Preston und seine Männer beim Blättersammeln im Wald gesehen.«
»Dann hast du ihn zu mir geschickt?
Er hat mir gegenüber gar nichts davon erwähnt.«
»Ich habe auch nicht mit Mister
Preston gesprochen. Bei einem Dutzend Fremder, die durch den Wald streifen,
hielt ich es für sinnvoller, mich zu verstecken ... Die Männer kommen aus Lone
Oak, sagst du?«
»Ja.«
»Das Lone Oak, das ich kenne, liegt
am unteren Ende des Pleasant Lake. Also, nördlich von Glensemais.« Die Gedanken
rasten plötzlich nur so durch meinen Kopf, und das Bild, zu dem sie sich
zusammensetzten, bereitete mir echtes Unbehagen und ein flaues Gefühl in der
Magengrube.
Mein Vater runzelte nachdenklich
die Stirn. »Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst?«
Ich hörte Schritte auf der Treppe.
»Vater, hör mir bitte genau zu«,
setzte ich hastig an, »dieser Preston kam nicht vom Pleasant Lake, sondern aus
südlicher Richtung.«
Ich hatte kaum meinen Satz beendet,
als ein hochgewachsener, elegant gekleideter Mann mittleren Alters die Stube
betrat. Ich erkannte ihn sofort. Er hatte die dunkle Stute geritten, und somit
stimmte auch meine Vermutung, dass er der Anführer war.
Der Mann sah sich mit herablassender
Neugier in der Stube um, bevor er seine Augen auf mich richtete.
Beim Eintreten unseres Gastes hatte
sich mein Vater aus seinem Polsterstuhl erhoben. Nun umrundete er den massiven
Eichensekretär und streckte dem Neuankömmling einladend einen Arm entgegen.
»Gwenyth,
ich möchte dir unseren Gast vorstellen«, sagte er freundlich.
Ich wusste, meine Nachricht konnte
ihn nicht unberührt lassen, aber in all den Jahren, in denen wir ständig auf
der Hut sein mussten, hatte er sich angewöhnt, seine Gefühle sorgsam vor seiner
Umwelt zu verbergen.
Der Fremde trat einen forschen
Schritt auf mich zu. Er war um fast einen halben Kopf größer als mein Vater und
von hagerer Statur. Trotzdem wirkte er zäh und ausdauernd und erinnerte mich an
einen Jagdhund, der gerade dabei war, eine Fährte aufzunehmen. Mit einem dünnen
Lächeln auf den Lippen reichte er mir die Hand, während er mich halb neugierig,
halb lauernd aus blassgrauen Augen musterte.
»Angenehm, Miss, mein Name ist
Benjamin Preston«, stellte er sich vor.
»Gwenyth Mary
McDonnell. Alastair McDonnell ...«, begann ich und ergriff zögernd seine Hand.
»... ist Euer Vater«, beendete
unser Gast meinen Satz. »Ich bin im Bilde. Und ich kann Euch versichern, Euer
Vater hat voll Stolz über seine Tochter berichtet.«
Er ließ meine Hand los. Aus einem
unerklärlichen Grund war ich froh darüber, denn tief in mir rührte sich ein
Gefühl, das mir riet, jede Form von Vertrautheit zwischen Preston und mir zu
vermeiden.
»Ich lasse Euch und meinen Vater
jetzt besser allein«, sagte ich mit einem entschuldigenden Fingerzeig in
Richtung Küche. »Bei so vielen Gästen gibt es eine Menge vorzubereiten.«
»Ich denke, Macey und Eibhlin
kommen ganz gut zurecht. Komm, setz dich zu uns und leiste mir und Mister
Preston ein wenig Gesellschaft«, entgegnete mein Vater.
Seine Hand lag in meinem
Rücken und dirigierte mich sanft, aber unnachgiebig zum Sofa und zu den beiden
ausladenden Polstersesseln vor dem Kamin.