Dienstag, 20. Januar 2015

2. Textspickerle zum Spin-Off DUNKLE HERZEN

Auszug aus Kapitel 2

Ich öffnete die Tür zum größten Raum des Hauses: der Wohnstube. Im Kamin brannte knisternd ein Feuer und füllte das Zimmer mit angenehmer Wärme und dem Duft nach Holz und Harz. Wie so oft saß mein Vater, Alastair McDonnell, an seinem Sekretär, der nahe an einem der hohen Fenster stand, und war mit irgendwelchen Notizen oder Abrechnungen beschäftigt.
Ich blieb auf der Türschwelle stehen und klopfte sachte gegen den Holzrahmen.
»Guten Abend, Vater«, begrüßte ich ihn. »Darf ich eintreten?«
Mein Vater hob den Kopf, nahm den Kneifer von der Nase und lächelte flüchtig, bevor er seine silberne Taschenuhr aus seiner Rocktasche zog. Er warf einen prüfenden Blick auf das Zifferblatt.
»Es ist fast sechs Uhr, mein liebes Töchterchen. Wo hast du dich so lange herumbetrieben?«, fragte er streng, aber zum Glück nicht wirklich verstimmt.
»Entschuldige bitte, Vater. Ich war im Wald, und ...«, ich zeigte durch die offenstehende Küchentür auf meinen Korb, den ich zuvor gut sichtbar auf dem Küchentisch platziert hatte. »Ich habe das schöne Wetter genutzt und noch einmal Brombeerblätter gesammelt. Für den Tee, den du so gern trinkst.«
Alastair McDonnells Miene hellte sich weiter auf, während er sich mit einer Hand über die kurzen grauen Haare strich. Diese Geste machte er immer, wenn er überlegte, ob er mich maßregeln oder Gnade vor Recht ergehen lassen sollte. Ich hoffte auf Letzteres.
»Na, wenn das so ist, will ich ausnahmsweise auf eine Standpauke verzichten«, brummte er hinter dem Ansatz eines Schmunzelns.
»Kann ich dich bitte sprechen, Vater? Es ist dringend«, bat ich.
»Nur zu, mein Kind, wo drückt der Schuh?« Er setzte sich bequem auf dem Polsterstuhl zurecht und faltete die Hände vor seinem Bauch.
»Eibhlin hat mir erzählt, dass wir Besuch haben.«
»Ja. Ein Mister Benjamin Preston aus Lone Oak. Er hat ein Lager für die Nacht gesucht. Ich habe ihm die Dachkammer angeboten, und seine Leute übernachten in der Scheune.«
Mein Vater musterte mich von Kopf bis Fuß. »Was ist los mit dir, Gwen? Du bist so blass, als hättest du einen Geist gesehen.«
»Ein Geist war es nicht, aber ich habe Preston und seine Männer beim Blättersammeln im Wald gesehen.«
»Dann hast du ihn zu mir geschickt? Er hat mir gegenüber gar nichts davon erwähnt.«
»Ich habe auch nicht mit Mister Preston gesprochen. Bei einem Dutzend Fremder, die durch den Wald streifen, hielt ich es für sinnvoller, mich zu verstecken ... Die Männer kommen aus Lone Oak, sagst du?«
»Ja.«
»Das Lone Oak, das ich kenne, liegt am unteren Ende des Pleasant Lake. Also, nördlich von Glensemais.« Die Gedanken rasten plötzlich nur so durch meinen Kopf, und das Bild, zu dem sie sich zusammensetzten, bereitete mir echtes Unbehagen und ein flaues Gefühl in der Magengrube.
Mein Vater runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst?«
Ich hörte Schritte auf der Treppe.
»Vater, hör mir bitte genau zu«, setzte ich hastig an, »dieser Preston kam nicht vom Pleasant Lake, sondern aus südlicher Richtung.«
Ich hatte kaum meinen Satz beendet, als ein hochgewachsener, elegant gekleideter Mann mittleren Alters die Stube betrat. Ich erkannte ihn sofort. Er hatte die dunkle Stute geritten, und somit stimmte auch meine Vermutung, dass er der Anführer war.
Der Mann sah sich mit herablassender Neugier in der Stube um, bevor er seine Augen auf mich richtete.
Beim Eintreten unseres Gastes hatte sich mein Vater aus seinem Polsterstuhl erhoben. Nun umrundete er den massiven Eichensekretär und streckte dem Neuankömmling einladend einen Arm entgegen.
»Gwenyth, ich möchte dir unseren Gast vorstellen«, sagte er freundlich.
Ich wusste, meine Nachricht konnte ihn nicht unberührt lassen, aber in all den Jahren, in denen wir ständig auf der Hut sein mussten, hatte er sich angewöhnt, seine Gefühle sorgsam vor seiner Umwelt zu verbergen.
Der Fremde trat einen forschen Schritt auf mich zu. Er war um fast einen halben Kopf größer als mein Vater und von hagerer Statur. Trotzdem wirkte er zäh und ausdauernd und erinnerte mich an einen Jagdhund, der gerade dabei war, eine Fährte aufzunehmen. Mit einem dünnen Lächeln auf den Lippen reichte er mir die Hand, während er mich halb neugierig, halb lauernd aus blassgrauen Augen musterte.
»Angenehm, Miss, mein Name ist Benjamin Preston«, stellte er sich vor.
»Gwenyth Mary McDonnell. Alastair McDonnell ...«, begann ich und ergriff zögernd seine Hand.
»... ist Euer Vater«, beendete unser Gast meinen Satz. »Ich bin im Bilde. Und ich kann Euch versichern, Euer Vater hat voll Stolz über seine Tochter berichtet.«
Er ließ meine Hand los. Aus einem unerklärlichen Grund war ich froh darüber, denn tief in mir rührte sich ein Gefühl, das mir riet, jede Form von Vertrautheit zwischen Preston und mir zu vermeiden.
»Ich lasse Euch und meinen Vater jetzt besser allein«, sagte ich mit einem entschuldigenden Fingerzeig in Richtung Küche. »Bei so vielen Gästen gibt es eine Menge vorzubereiten.«
»Ich denke, Macey und Eibhlin kommen ganz gut zurecht. Komm, setz dich zu uns und leiste mir und Mister Preston ein wenig Gesellschaft«, entgegnete mein Vater.
Seine Hand lag in meinem Rücken und dirigierte mich sanft, aber unnachgiebig zum Sofa und zu den beiden ausladenden Polstersesseln vor dem Kamin.